Donnerstag, 19. Mai 2011

Die Vierte Dimension



 Dieses Granatenwetter, mit seinem ach so blaublaublauem Himmel!!! Die allgegenwärtig strahlenden 24h-Sonne!!! Diese reine, kristallklare Luft, die alles nochmal so plastisch macht, als würde man hier nicht nur 3D sehen, sondern mindestens 4D!!! All dies schiebt gerade die Gletscher über den Fjord gefährlich nah heran, an meinen Frühstücks-Krümel-Kaffee-Verweil-Ort. "Wer meldet in meinem Blog, dass Sunny vom Gletscher überrollt wurde?", schießt es mir durch meinen Kopf, während mir im gleichen Augenblick klar wird, dass genau dies den 'Arktischen Wahnsinn' ausmacht. Man muss einfach loslassen können, um alles genußvoll inhalieren zu können - die glasklare Luft, mitsamt ihrer 4ten Dimension und allen Eventualitäten. Eben auch die Gefahr einer Kollision mit einem Gletscher, während man in seinem Schlafsack steckt und Kaffee schlürft.
Gletscher und Gänse kommen gleichermaßen zügig heran

Sicherlich, es könnte den Anschein haben, dass ich ein wenig übertreibe, oder gar meine Wahrnehmung nicht ordnungsgemäß funktioniert. Eventuell ist sogar die Interpretation dessen, was meine Sinne mir zu vermitteln trachten, komplett aus den Fugen geraten. Mag sein. Aber dann ist es eine ansteckende Sache, vielleicht übertragen durch das Bewohnen des selben Archipels, denn mein Gast zeigt ähnliche Symptome, obwohl er auf mich strukturiert denkend wirkt, kurz: klaren Kopfes zu sein scheint. Dennoch hatte dieser ernsthafte Sorgen, wir müssten heute noch Gletscher von den Fenstern des Wirtschaftsgebäudes kratzen. Soviel also erstmal zur Ehrenrettung meiner Sinne ;-D 
  
Mittlerweile bin ich wieder alleine mit meinem täglichen Staunen und lasse dieses vornehmlich erstmal in den Blog fließen. Nein, ein Nachschlagewerkt wird mein Blog sicher nie werden. Dieses Leben hier sachlich darstellen - dafür müsste noch allerhand Zeit ins Land gehen! Wenigstens soviel Routine wäre erforderlich, dass ich all diese unglaublichen Arktis-Phänomene einfach ignorieren könnte, während ich, den Laptop auf den Knien balancierend, dreifach besockt, die Nase im Wind, den Blog tippe. He? Wie denn das? Alles einfach ignorieren?
Etwa diese ungeheuerlichen, gewaltigen, mächtigen Gletscherfronten, die gefährlich nah an meine Füße rücken, während ich tippe? Das Eis, das da träge an mir vorbeizieht und auch jenes, das starr Land, Zeit und Raum einfriert? Das Wasser, das sich unter einem dichten Schollengeflecht duckt und plötzlich überraschend im absoluten Blau wieder vor Dir schwappend und schwätzend ans Ufer platscht? Die Luft, so klar und trocken, dass sie die Welt um Dich herum zoomen kann? Die dann und wann vorbeituckernden Schiffe, die Gechichten erzählen, dort am Horizont? Die ungeheuerliche Weite dieses Landes? Die allgegenwärtig fühlbare Wildnis? Diesen tiefen Frieden, den die, auf einer Eisscholle dahinziehenden Robben, ausstrahlen? Die weißen Roben, die beinahe alle meine Nachbarn tragen, vom Polarfuchs bis hin zum Schneehuhn? Meine immer zahlreicher werdenden gefiederten Nachbarn, die soviel Selbstverständlichkeit ausstrahlen, dass sie mir jeden Augenblick in ihrer Natürlichkeit berichten, wie es ist, einfach nur zu Sein?


mein flexibles Büro



Sonnenterrasse

abreisender Gast

anreisende Gäste



die letzte Eisscholle habe ich heute Morgen ziehen lassen

Nein, nein, nein, ich kann dies nicht ignorieren! Unmöglich!  All diese Dinge, die mich hier durchdringen und in jeder Pore haften und die dafür sorgen, dass ich Begriffe wie "Weite, Stille, oder Kraft" neu definieren lerne?! Nein. Ich entschuldige mich ernsthaft bei all jenen, die endlich hören wollen, wie es sich denn noch so in der Arktis lebt...außer völligst glückseelig-verstrahlt grinsend. Vielleicht gelingt es mir, gezielte Fragen auch gezielt zu beantworten. Dann können wir eventuell sogar entscheiden, ob ich den Verstand verloren habe, meine Sinne mich täuschen und/oder ich ganz einfach nur wahnsinnig geworden bin. Also frage, wer fragen möchte.
Soviel Täuschung, dass der hier einziehende arktische Frühling eine trügerische Wahrnehmung sein könnte, traue ich jedoch selbst meinem erhitzen Gemüt nicht zu. Womit wir also endlich beim Thema wären, dem arktischen Frühling. Nachdem ich im letzten Blog nochmal über eine kleine Bildergalerie den Winter wüten ließ, richte ich ab sofort meinen Fokus auf den zögerlich ins Land ziehenden Lenz.
Selbst hier, im Land der ständig wechselnden Optik, ist der Frühling eine Zeit des Umbruches und er passiert nicht von Dienstag auf Mittwoch. So döst gerade zu meiner Linken ein Gänsepaar zwischen kurzem, struppigen Tundragraszipfeln, während zu meiner Rechten ein Rentier über eine gefrorene Eisdecke stapft, obwohl sein Kollege in tiefen, angetauten Schnee einbricht. Der Frühling flatterte zwar mit den Gänsen herein, breitet sich jedoch unschlüssig, mal eisig frostend, mal stürmend und trockenen Schnee über das Land wehend, mal still und mit kräftiger Sonne aus. "Ein Etappenlauf", nicke ich gedanklich diese Umbruchszeit ab. "erst wenn kein Rentier mehr ziemlich dämlich-überrascht aus einer unter ihm eingebrochenen Schneedecke herauslugt, erst dann bin ich mitten drin im arktischen Frühling.
Und Ihr auch. Ich werde berichten!


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