Samstag, 21. Mai 2011

Frühling war gestern

Frühling war gestern.
Heute ist Winter. Es schneit. Ununterbrochen. Mit leichtem Bedauern beäuge ich das gänsige Volk, das sich um mich herum niedergelassen hat. So hocke ich also mitten drin in der Gänsekolonie! Ich hingegen bin satt, aber die da um mich herum...sie landeten hier nach ihrem Ultra-Flug sicherlich hungrig bis auf die Federn. 
 
Die Stille in einer solch großen Kolonie scheint mir verdächtig - keine großen Catwalks - wer ist hier der Größte, der Schönste, der Stärkste?! Kein Geschnatter oder Getröte "seht her, seht her, ich bin groß, stark, vermehrungswürdig!" Ein Leib neben dem anderen, den Schnabel unten, suchend, was der Boden unter Schnee und Eis Nahrhaftes hergeben könnte. Ob sie Boden finden ist fraglich. Einige versuchen sich an den wenigen Schmelzwasser-Stellen, um dort im Tauchgang zu erhaschen, was sie nährt. Was um Himmels Willen das nun sein sollte, ist mir ein Rätsel. "Pfui, ich domestiziertes Wesen der Moderne", nagt es an mir. "Wirst du immer noch an Deinem heißen Tüten-Süppchen schlürfen und genußvoll "hmmm wie wohltuend" denken, während Du zusiehst, wie die Clique da um dich herum anfängt zu taumeln vor Hunger, wenn du siest, wie sie stürzen vor Schwäche, wenn du erkennst, dass sie liegen bleiben, um des Hungertodes zu sterben?" krächz, hüstel" antworte ich mir selbst: Ein Krumen hat sich im Hals verhakt.
"Lenk nicht ab, Sunny", mahne ich mich. "Du willst Natur? - hier hast du sie!" versuche ich mich dem Gegebenen zu stellen.
Hier ist nicht mal eben "Tauben füttern inna Stadt, ey"! 
Hier ist echt ey.
Das gesamte Leben, Tod inklusive. Wieder spüre ich die Wildheit und Kraft der Natur.
"URGA", schießt es mir durch den Kopf. "Das ist mein Onkel, der da liegt". (Ein wirklich empfehlenswerter Film, der ganz nah heranführt an das elementare Leben. Der Onkel lag übrigens in der Tundra rum, ach, und lebte nicht mehr.)
Der verkantete Krümmel im Hals löst sich und gleitet spürbar und schmerzhaft viel zu langsam meine Kehle hinab. Mit dem Rest meiner heißen, wohltuenden Suppe spüle ich nach und ein gutturales "hmmmm, tuut das guuut" schlüpft mir da über die Lippen.
Ich versuchte doch von jeher stets freiwillig, mich durch meine unmotorisierte Lebensform in diversen Weiten der Natur, nah an das Elementare heran zu bugsieren. Den Trieb auslebend, meinen knurrenden Magen erst füllen zu können, nachdem ich meine Strecke durch den Wald gerannt bin, auf Beutejagdt gehend sozusagen, habe ich immer genossen. Jede Einkaufs-Tour wird so zur Huldigung an meine Lebensform. Ich genieße es, egal wo auf der Welt, mit diebischer Freude,  während ich mich mit meinem leeren Magen und vollem Rucksack an meinen Artgenossen vorbeischiebe, die über vollen Kofferräumen die Klappen schließen und denen aus Mimik und Gestik abzulesen ist, dass ihr Tun ein "Muss ja" ist.  Innerlich brülle ich ein lautes "rrroooaaarrrr" und stürze dankbar zurück in die Bewegung, die Düfte, die Ruhe, meinen und den Puls der Natur fühlend und das Elementare ahnend, kurz - in alle Sinnesbereicherungen, die solch ein Beutezug mit sich bringt.
 "So what? Was geht ab in Sachen Gänse, Sunny?" Möglicherweise bin ich die Einzige hier, die angesichts der hungrigen Mägen um mich herum leidet! Mag sein, dass die Sau auf unseren westlichen Tellern, stets satt und fett gefüttert, durch Leidvolleres gegangen ist, als meine Gänse hier. "Oder...", schwenkt mein Scheinwerfer auf die westlichen Artgenossen dieser wilden Truppe hier, "...oder wie sieht eine glückliche Gans aus? Etwa wie eine Mastgans?!"
"Am Ende bin ich hier schlicht und einfach die einzige wahrlich "dumme Gans", die das Geschehen vor ihren Augen nicht von ihren eigenen Dingen und Begriffen in ihrem Kopf lösen kann?!" schnattere ich mir selbst ins Ohr und beschließe, dass ich lieber eine wilde hungrige, statt einer satten Mastgans wäre.
"Ich frage mich ja auch nicht, ob die Robben-Mama mit ihrem Kleinen dort auf der Scholle glücklich ist", schließe ich zunächst diesen Gedanken und widme meine Aufmerksamkeit meinem Schlafsack, in den ich nun krabbel - satt, gewärmt und müde.
Erholsame Stunden Schlafes später erwache ich immer noch gesättigt, jedoch hungrig auf den Tag.
"Meiner dekadenten Lust auf einen dampfenden Becher Kaffee werde ich nachgeben, soviel ist klar". Mit diesem Gedanken öffne ich Augen und Schlafsack und sehe, dass ich mitten in einer geschäftigten Kolonie Gänse erwacht bin, die schnäblend im Sonnenschein, Gefieder zupfend, munter im Schmelzwasser badend und sich prächtig präsentierend, willig ihre Art zu erhalten, mitten im Tagesgeschehen sind.
Winter war gestern.
Leben ist heute.
echt!
 

1 Kommentar:

  1. Ance Westermann22. Mai 2011 um 12:20

    Wow, toll geschrieben! Regt zum Nachdenken an...

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